Biographisch, historisch, detailverliebt

Pünktlich zum letzten Tag des Jahres habe ich wieder meine literarischen Highlights aufgelistet. Wie immer gilt: die Reihenfolge ist kein Ranking, sondern rein alphabetisch nach Autorennamen, und die Bücher müssen nicht 2017 erschien sein – es geht nur darum, dass ich sie in diesem Jahr gelesen und für besonders gut befunden habe.

  1. Günter de Bruyn – Vierzig Jahre

Nachdem mir schon de Bruyns Romane „Märkische Forschungen“ und „Buridans Esel“ sehr gefallen hatten, lag es nahe, auch einmal seinen autobiographischen Rückblick auf sein Leben in der DDR zu lesen. Das tat ich im vergangenen Sommer im Finnland-Urlaub innerhalb weniger Tage. Während de Bruyns einstige Tätigkeit als Bibliothekar die beiden genannten Romane indirekt beeinflusst, wird sie hier zum direkten Gegenstand der Erzählung. Diese Tatsache war für mich der Hauptgrund, warum ich das Buch lesen wollte, aber die von staatlicher Zensur und anderen Widrigkeiten geprägte Arbeitswelt eines Bibliothekars in der DDR macht nur einen kleinen Teil des Lebens in diesen vierzig Jahren aus. In all dieser Zeit war Günter de Bruyn vor allem eines: Schriftsteller. Und dabei hatte der Staat natürlich noch viel stärker seine Finger im Spiel.

Davon und auch von seinen eigenen Entscheidungen, Beweggründen und Zweifeln erzählt er in einer Weise, die verstehen lässt, warum er in der DDR geblieben ist, auch noch nach dem Mauerbau, den er als schrecklichen Einschnitt empfunden hat. Doch er entkommt zumindest Ost-Berlin und damit auch – jedenfalls gefühlt – ein Stück weit der staatlichen Kontrolle. Er kauft ein altes Anwesen mitten im brandenburgischen Wald und zieht sich dorthin zurück, eine Flucht ohne Verlassen der Heimat, ein Besinnen auf die Natur und das einfache Leben in komplizierten Zeiten. Diese selbstgewählte Abgeschiedenheit passt gut zu der Rolle, die de Bruyn über weite Strecken einnimmt: die eines Beobachters, der staunend und oft verärgert auf das blickt, was in der DDR geschieht, und dabei versucht, für sich selbst einen Weg zu finden, damit umzugehen. Einen Weg, der es ihm ermöglicht, sein Geld mit dem Schreiben zu verdienen und dabei sowohl seinen Schriftstellerkollegen als auch dem eigenen Spiegelbild nach wie vor in die Augen sehen zu können. Das erweist sich als schmaler Grat – und Günter de Bruyn sich selbst als ehrlicher Erzähler, der nicht davor zurückschreckt, eigene Fehler einzugestehen.

In einem Interview hat de Bruyn, der beim Mauerfall bereits über 60 war, einmal gesagt, dass er die deutsche Teilung als große Ungerechtigkeit empfunden hat, die plötzlich über das Leben der rund 18 Millionen Ostdeutschen hereinbrach. Dieses Empfinden ist in der Schilderung deutlich zu spüren, und auch der Titel, „Vierzig Jahre“ ist ein Ausdruck dessen: Vierzig Jahre lang mussten wir so leben, ohne dass wir es uns ausgesucht hätten. Während de Bruyn anfangs noch aktiv kämpfte, unter anderem 1953 auf die Straße ging, entwickelte er im Laufe der Zeit eine Art passiver Trotzhaltung. Er blieb, als wollte er sich selbst und der Welt beweisen, dass man nicht fliehen muss, um seine Ablehnung zum Ausdruck zu bringen. Würde man ihnen diesen seinen Umgang mit den politischen Verhältnissen einfach nur grob schilder, würden viele Menschen meiner Generation vermutlich den Kopf schütteln, ihm Bequemlichkeit oder gar Feigheit unterstellen, aber die Lektüre dieses Buchs führt zu Verständnis. Und zu der Frage: Wie hätte ich eigentlich selbst gehandelt?

  1. Tom McCarthy – Men in Space

In meinem Post zu meinen literarischen Highlights des Jahres 2016 habe ich es bereits angedeutet: nachdem „Remainder“ mich absolut fasziniert hatte, wollte ich unbedingt mehr von Tom McCarthy lesen. Das habe ich inzwischen getan und nun landet der britische Autor gleich zwei Mal auf dieser Liste meiner Lieblingsbücher in diesem Jahr. Zunächst einmal hätten wir da „Men in Space“, das als McCarthys zweiter Roman gilt, in Wirklichkeit jedoch zu weiten Teilen vor „Remainder“ verfasst wurde. Der größte Unterschied zwischen diesen beiden Werken (und auch zwischen „Men in Space“ und „Satin Island“, zu dem ich später komme) liegt für mich darin, dass „Men in Space“ eine komplexere Story mit deutlich mehr Protagonisten erzählt und ganz allgemein romanhafter, ja mainstreamtauglicher daherkommt. Die Handlung spielt an verschiedenen Schauplätzen in Ost- und Mitteleuropa, hauptsächlich in Prag, kurz nach dem Zusammenbruch des sogenannten Ostblocks. Haupthandlungsstrang ist die Geschichte eines Kunstraubs. Ein wertvolles Gemälde mit religiösem Motiv, gestohlen in Sofia, genial gefälscht in Prag und dann unterwegs nach Wien. Aber leider geht nicht alles nach Plan.

Doch der Roman hat mehr zu bieten als diesen Plot. Es geht auch um Partys im Prager Künstlermilieu, bei denen die Aufbruchsstimmung im nun freien Osteuropa zelebriert wird, um einen bulgarischen Fußballschiedsrichter, dessen Kinder entführt wurden, um einen niederländischen Galeristen, der Briefe an seinen Freund schreibt, und um jede Menge anderer zwischenmenschlicher Begegnungen unterschiedlichster Art. Kaum einer der Protagonisten scheint angekommen zu sein, alle sind ständig unterwegs, im Aufbruch, auf der Suche. In gewissem Sinne sind ihre Leben vergleichbar mit dem Schicksal des Kosmonauten, von dem auf einer der Partys erzählt wird: dieser hängt im Weltraum fest, weil nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion unklar ist, welcher der nun unabhängigen Staaten ihn auf die Erde zurückholen soll. Ein „Man in Space“ im wörtlichen Sinne, der zum Symbol wird für das Leben der Männer und Frauen auf der Erde, von denen der Roman erzählt. Die noch ungeordneten Verhältnisse im Osteuropa der frühen Neunziger sorgen für Verwirrung, ermöglichen jedoch auch die kriminellen Machenschaften rund um das gestohlene Gemälde, in die fast alle Protagonisten auf die ein oder andere Art und Weise verstrickt sind.

Es ist nicht immer leicht, den Überblick zu behalten, wenn man „Men in Space“ liest. Nicht nur aufgrund der vielen Charaktere mit ihren diversen Nationalitäten und Hintergründen, sondern auch, weil der Roman mal aus der Sicht des einen, dann des anderen Protagonisten geschrieben ist. Zu den klassisch erzählten Passagen aus wechselnder Perspektive gesellen sich die Briefe des Niederländers und das die Handlung immer wieder unterbrechende Protokoll eines Spitzels, der darin häufig auch subjektive Gedanken und Empfindungen offenbart. Die Sätze, die McCarthy für all das wählt, sind weniger verschachtelt und verkopft als in seinen anderen Romanen, und vor allem gibt es deutlich mehr Dialoge, verfasst mit viel Humor und in realistischer Sprache. Teilweise könnte man fast glauben, dass er selbst dabei war, als der Schiedsrichter Anton, der Maler Ivan, der angehende Kunstkritiker Nick und all die anderen ihre Position in der sich rapide verändernden Welt suchten. Und sein Talent, auf diese Weise zu schreiben, beeindruckt mich ebenso wie die in seinen anderen Romanen überdeutlich werdende Gabe, alltägliche Geschehnisse, aber auch besondere Phänomene genauestens zu beobachten und bis ins kleinste Detail präzise zu beschreiben.

Als kleines Extra enthält meine Ausgabe des Romans übrigens ein Nachwort des britischen Philosophen Simon Critchley, der darin nicht nur die Symbolik in „Men in Space“ analysiert, sondern auch zum Verständnis von „Remainder“ beiträgt.

  1. Tom McCarthy – Satin Island

Im Gegensatz zu „Men in Space“ hat McCarthys neuester Roman keine klare Handlung, keinen Plot, den man in wenigen Sätzen wiedergeben könnte. Es geht um den Anthropologen U. (eine sicherlich nicht zufällig gewählte Abkürzung, wie klar wird, wenn man den Roman auf Englisch liest), der für eine ominöse Firma, die immer nur als „The Company“ bezeichnet wird, menschliches Verhalten beobachtet. Der Autor überträgt sein eigenes Talent für genaue Beobachtungen hier also auf seinen Hauptprotagonisten, der seine Arbeit folgendermaßen erläutert: „We purvey cultural insight. What does that mean? It means that we unpick the fibre of a culture (ours), its weft and warp – the situations it throws up, the beliefs that underpin and nourish it – and let a client in on how they can best get traction on this fibre so that they can introduce into the weave their own fine, silken thread, strategically embroider or detail it with a mini-narrative (a convoluted way of saying: sell their product).”

Darüber hinaus ist es aber auch U.s Aufgabe, den sogenannten Great Report zu verfassen. Es wird nie aufgeklärt, was genau es damit auf sich hat, und auch U. scheint nicht wirklich zu wissen, was er da überhaupt schreiben soll. Seine Motivation, damit anzufangen, hält sich aber sowieso in Grenzen. Stattdessen beschäftigt er sich wie besessen mit Informationen und Nachrichten, entwickelt immer wieder neue Obsessionen für bestimmte Themen und Phänomene, wie beispielsweise Ölfreisetzungen im Meer oder den Tod eines Fallschirmspringers, über den in den Medien berichtet wird.

Über U. erfährt man ähnlich wenig wie über den namenlosen Ich-Erzähler in „Remainder“ (allerdings kann man sich mit U. deutlich besser identifizieren) und die Selbstverständlichkeit, mit der McCarthy seine Leser mit solch undefinierten Charakteren konfrontiert, ist einer der Gründe, warum mir seine Romane so gut gefallen. Er schafft es sehr gut, Dinge einfach als gegeben zu präsentieren, ohne dass man sie hinterfragt, sich allzu sehr an fehlenden Details stört. Wenn ich selber schreibe, neige ich dazu, alles haarklein erklären zu wollen, aus Angst, dass irgendetwas nicht nachvollziehbar, nicht plausibel erscheinen könnte (ein Problem, gegen das ich mit dem „Projekt Patine“ angehen wollte) – McCarthy zeigt jedoch, dass das nicht sein muss. Zumal ich ihm unterstelle, dass er in diesem Roman vor allem über Dinge schreiben wollte, die ihm selbst im Leben aufgefallen sind. U. und das ganze Konstrukt um die Company und den Great Report dienen vielleicht in erster Linie dazu, diesen Beobachtungen und Gedankenexperimenten einen Rahmen zu geben. Das klingt negativer als es ist, denn dieser Rahmen ist ihm gut gelungen und erfüllt zudem einen weiteren Zweck, zu dem ich gleich noch kommen werde – der Roman ist allerdings definitiv nichts für Menschen, die viel Action mögen, aber die sind bei McCarthy wohl grundsätzlich falsch.

Es gibt noch drei weitere Gründe, warum ich so begeistert bin von Tom McCarthys Romanen und warum ich „Satin Island“ unter denen, die ich bisher gelesen habe („C“ fehlt mir noch, wartet aber bereits im Regal), als meinen Favoriten bezeichnen würde. Da ist zunächst einmal der bereits erwähnte Humor, der trotz aller Mysteriösität und all der philosophischen Fragen auch in „Satin Island“ nicht untergeht. So wird man bereits im zweiten Kapitel vorgewarnt: „Events! If you want those, you’d best stop reading now“ – ein Satz, den ich so wunderbar selbstironisch finde, dass ich ihn schon vor einiger Zeit als Zitat auf der Info-Seite zu diesem Blog eingefügt habe. Des Weiteren sind McCarthys Romane, so eigenartig sie auch sein mögen, zweifellos relevant für unsere Zeit und die heutige Gesellschaft. In „Remainder“ geht es um Authentizität, um Zufälle und Planbarkeit. Die Protagonisten in „Men in Space“ sind auf der Suche nach ihren Rollen im Leben, nach Ordnung, nach Identität. Und vieles in „Satin Island“ kann man als Anspielung auf die vielzitierte Informationsflut verstehen, der wir heute ausgesetzt sind und in der man sich, wie U., leicht verlieren kann. Hinzu kommt U.s unbändiger Drang danach, die Welt, in der er lebt, verstehen zu wollen.

Der letzte Grund für meine Begeisterung ist McCarthys Schreibstil, gepaart mit meiner Liebe zur englischen Sprache, die der Autor auf eine Weise beherrscht, die für jeden Übersetzer eine große Herausforderung darstellen dürfte. Und das lässt sich am besten mit Hilfe eines weiteren Auszugs aus dem Roman belegen: „[…] the image of a severed parachute that floated, like some jellyfish or octopus, through the polluted waters of my mind: the domed canopy above, the floppy string casually twining their way downwards from this like blithe tentacles, free ends waving in the breeze. This last picture, for me, produces, even now, a sense of calm: no angry and insistent tow, no jerks and tugs and stresses – just a set of unencumbered cords carelessly feeling the air. This sense of calm, of languidness, grows all the more pronounced when set against the panic of the man hurtling away from it below. He would have looked up, naturally, and seen the chute lolling unburdened and indifferent above him – as though freed from the dense load of all its troubles, that conglomeration of anxiety and nerves that he, and the human form in general, represented.”

  1. Mihail Sebastian – For Two Thousand Years

Auf der Suche nach geeigneter Urlaubslektüre stolperte ich im Juli in einer Tallinner Buchhandlung über diesen Roman des rumänischen Autors Mihail Sebastian, der mit bürgerlichem Namen Iosif Hechter hieß. Geschrieben hat er den Roman im Jahre 1934, doch erst 2016 wurde er zum ersten Mal ins Englische übersetzt (eine deutsche Fassung erschien 1997, davon erfuhr ich aber erst nach dem Kauf der englischen Ausgabe). Sebastian ist vor allem für seine Tagebücher bekannt, in denen er sein Leben als Jude im zunehmend antisemitischen Rumänien schildert.

Auch der Roman liest sich wie ein Tagebuch eines jungen Jurastudenten in Bukarest, dessen Persönlichkeit und Erlebnisse sicher viele Parallelen mit denen des Verfassers aufweisen. An der Uni wird der namenlose Ich-Erzähler immer wieder diskriminiert und angegriffen. Doch er ist nicht bereit, das Studium aufzugeben. „I received two punches during today’s lectures and I took eight pages of notes. Good value, for two punches”, schreibt er. Diese beiden Sätze sind ein gutes Beispiel für den Stil, in dem der Roman verfasst ist. Über weite Strecken, besonders am Anfang, besteht er aus kurzen Abschnitten, knappen Notizen als Protokoll der Ereignisse, an vielen Stellen verfasst in einem unerwartet humorvollen Ton, einem gewissen Galgenhumor, der der Erzählung eine besondere Eindringlichkeit verleiht. Zudem fällt auf, dass der Erzähler niemals lamentiert. Er ist stolz, stur, entschlossen und trotzig. Und das ist sehr beeindruckend, zumal er sich anfangs nicht sicher ist, wie er selbst eigentlich zu seiner Religion, seiner Nation und seiner eigenen Identität steht.

Bücher über das Schicksal der europäischen Juden vor dem und im zweiten Weltkrieg gibt es viele (und meines Erachtens kann es davon gar nicht genug geben). „For Two Thousand Years“ ist für mich insofern besonders, als es in Rumänien spielt, in einem Land, aus dem nicht allzu viel Literatur nach Deutschland gelangt und das ich einen Monat vor besagtem Zufallsfund in Tallinn zum ersten Mal bereist hatte.

Ursprünglich erschien der Roman mit einem Vorwort des rumänischen Philosophen und Theologen Nae Ionescu, um das Sebastian ihn gebeten hatte. Ionescu brachte darin einige klar antisemitische Thesen unter, der enttäuschte Sebastian entschied sich jedoch, es trotzdem abdrucken zu lassen – ein Skandal innerhalb der rumänischen Literaturwelt. In den modernen Ausgaben des Romans fehlt das Vorwort, von dessen Inhalt sich Sebastian kurz nach Erscheinen in einem Essay mit dem Titel „Wie ich ein Hooligan wurde“ distanzierte. Wer mehr über diese ganze Geschichte wissen möchte, dem empfehle ich den sehr lesenswerten FAZ-Artikel „Aus einem Irrenhaus“ von 2005. Ich selbst habe mir darüber hinaus fest vorgenommen, in der nicht allzu fernen Zukunft auf jeden Fall die Tagebücher von Mihail Sebastian zu lesen, die unter dem Titel „Voller Entsetzen, aber nicht verzweifelt“ in einer deutschen Fassung erschienen sind – ein Titel, der auch gut zu der Haltung des Studenten in „For Two Thousand Years“ passt.

  1. Mike Skinner (with Ben Thompson) – The Story of The Streets

Diese Liste endet, wie sie angefangen hat: mit einer Autobiographie. Allerdings weist dieses letzte Buch abgesehen davon keinerlei Ähnlichkeit mit „Vierzig Jahre“ auf. Mike Skinner ist ein englischer Rapper und Produzent, besser bekannt als The Streets (ein Name, der immer wieder zu der Fehlannahme geführt hat, es handele sich dabei um eine Band). Bekannt wurde er 2001 mit dem Song „Has It Come To This?“, der damals kaum in den Mainstream passte und sich in kein Genre so recht einordnen ließ, aber trotzdem – oder gerade deshalb – in Großbritannien ziemlich erfolgreich wurde, ebenso wie fast alles, was Skinner in den darauffolgenden zehn Jahren als The Streets veröffentlichen sollte.

In diesem Buch erzählt er die Geschichte des Projekts The Streets, das er 2011 für abgeschlossen erklärte, 2018 jedoch zumindest für eine Tour wieder aufleben lassen möchte. Mir ist nicht bekannt, wie viel von dem Buch er tatsächlich selbst verfasst hat, angesichts seines unverkennbaren Talents für das Verfassen sehr guter und vor typisch britischem Humor nur so strotzender Songtexte kann ich mir jedoch vorstellen, dass sein eigener Anteil ziemlich groß ist. Das würde auch zu seiner Einstellung bezüglich seiner Musik passen, die in dem Buch deutlich wird: er hat immer darauf bestanden, möglichst viel selbst zu machen, auch wenn das eine Zeit lang bedeutete, seine Songs eingezwängt in einen Kleiderschrank aufnehmen zu müssen, um keine störenden Nebengeräusche aus der Wohnung einzufangen. Die Überzeugung, dass seine Musik nur dann wirklich genau so werden kann, wie er sie gerne hätte, wenn er so gut wie alles daran selbst in die Hand nimmt, ist ebenso beeindruckend wie sein bereits im Kindesalter gefasster, vollkommen unerschütterlicher Entschluss, dass er sein Leben der Musik widmen würde: „I always wanted to do music – it was either that or death.“ Besonders interessant ist das mit dem Hintergrundwissen, dass Skinner in seiner Kindheit und Jugend unter epileptischen Anfällen litt und daher vor der Erfindung des Flachbildschirms nicht fernsehen und keine Videospiele spielen durfte. Sowohl er selbst als auch der Leser kann nicht anders, als sich zu fragen, ob diese Einschränkung ihn quasi dazu gezwungen hat, sich kreativ zu beschäftigen – eine Frage, die er nicht recht bejaht, aber auch nicht klar verneint.

Skinner schildert seinen Werdegang vor und während seiner Jahre als The Streets mit Humor, Selbstironie, Bescheidenheit und absoluter Ehrlichkeit. Er verleugnet nicht, dass er mit Drogen zu tun hatte (wenn auch nie wirklich exzessiv oder dauerhaft), dass er sein erstes Album in erster Linie für sich selbst gemacht und es nicht auf den Erfolg angelegt hat, und dass es auch für einen bodenständigen Typen wie ihn, der nach dem Tod seines Vaters trotz seiner auch finanziellen Verdienste durch die Musik zwischendurch für eine Weile wieder bei seiner Mutter einzog, schwer sein kann, nicht abzuheben. Darüber hinaus erfährt man viel über die Hintergründe der fünf Alben, die Skinner als The Streets veröffentlicht hat, und über die sehr unterschiedlichen Lebensphasen, in denen sie entstanden sind. Darüber hinaus teilt er seine Gedanken zu den unterschiedlichsten Themen, die längst nicht alle mit Musik zu tun haben. Eine schöne Ergänzung sind die 16 Seiten mit Schwarz-Weiß-Bildern aus den Fotoalben der Familie Skinner, die die Schilderungen noch greifbarer sind.

Ich persönlich mag die Musik von The Streets sehr gerne, aber ich glaube, auch als Nicht-Fan kann man Spaß an dem Buch haben, handelt es doch schließlich nicht zuletzt auch von der Musikbranche im Allgemeinen und allem, was hinter kommerziell erfolgreicher Musik steckt. Zudem erfüllt Skinner, wie in seinem Buch deutlich wird, die gängigen HipHop-Klischees in genau so geringem Maße wie seine Songs. Wer seine Musik schon kennt, wird sie nach der Lektüre umso lieber hören und mit dem neu gewonnenen Hintergrundwissen noch besser verstehen, wer sie noch nicht kennt, wird aufgrund der gut formulierten Schilderungen eines absolut sympathischen Musikers Lust bekommen, sie kennenzulernen. Ich bin eigentlich kein großer Fan von „Star“-Biographien, aber diese hier, auf die ich zufällig gestoßen bin, kann ich uneingeschränkt empfehlen.

4 Gedanken zu „Biographisch, historisch, detailverliebt

  1. Wieder mal sehr gut. Habe zwar nur den Roman “Vierzig Jahre” von Günter de Bruyn” gelesen (bevor ich ihn dann Dir empfahl). Aber so wie Du das Ganze darstellst, würde ich es auch sehen. Ein wirklich lesenswertes Buch!

  2. Könnte missverständlich sein…. – Ich las durchaus noch andere Bücher von de Bruyn (ist Jahre her), aber von den Deinerseits kommentierten hier im Artikel nur das von de Bruyn. So wäre es vielleicht klarer.

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